P. Dinzelbacher: Unglaube im „Zeitalter des Glaubens“

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Titel
Unglaube im „Zeitalter des Glaubens“. Atheismus und Skeptizismus im Mittelalter


Autor(en)
Dinzelbacher, Peter
Anzahl Seiten
XII, 166 S.
Preis
€ 23,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Gruber, University of Oxford

„Diese Menschen waren außerstande, ohne den Glauben an Gott als das Prinzip eines allgemeinen Regulativs und der Fundierung eines moralischen Lebens auszukommen. Sie konnten die Welt ohne einen Schöpfer nicht begreifen.“1

So benennt Peter Dinzelbacher zu Beginn seines Buches über „Unglauben im ‚Zeitalter des Glaubens‘“ präzise die Vorbehalte, die ihm oftmals a priori entgegenschlagen und ihrerseits zur relativ geringen Erforschung des mittelalterlichen Unglaubens im Gegensatz zu Heterodoxie und Häresie beigetragen haben. Erst in jüngster Zeit sind zu weitgehend ideologisierten, entweder Atheisten um jeden Preis suchenden oder allzu unkritischen Überblicksdarstellungen erste Einzelstudien getreten, die sich jetzt mit der Hoffnung auf mehrere angekündigte monographische und systematische Untersuchungen verbinden.

Drei fundamentale Probleme stellen sich in diesem Zusammenhang. Die präzise Definition eines Untersuchungsgegenstandes, von dem das Mittelalter weder Begriff noch scharfe Vorstellung gehabt zu haben scheint; die deutlich erhöhte Gefahr, die eigene Weltanschauung zur ideologischen Brille werden zu lassen; und die Notwendigkeit, sich so viele scheinbar sattsam, jedenfalls umfangreich diskutierte Problemfelder erneut vornehmen und die Quellen nunmehr gegen den Strich lesen zu müssen. Von einer Person allein ist dies kaum zu leisten; beim Verzicht darauf wird aber aus der Untersuchung eine kontextlose Anekdotensammlung.

Zwar möchte Dinzelbacher „auf diesen blinden Fleck in unserem Mittelalterbild aufmerksam machen“. In zehn Kapiteln unternimmt er eine Annäherung an das Phänomen mittelalterlichen Unglaubens aus verschiedensten Blickwinkeln und bietet dabei eine reiche Materialauswahl. Auch als Forschungsaufruf ist Dinzelbachers Buch durchaus lesenswert und anregend. Schon aufgrund seiner lediglich gut 150 Textseiten kann es jedoch nicht den Anspruch einer vollständigen Untersuchung erheben. Und letztlich krankt auch Dinzelbachers Buch an den drei genannten Problemen.

Im ersten Kapitel erinnert Dinzelbacher zu Recht daran, die Begriffe incredulitas und infidelitas seien ganz überwiegend zur Bezeichnung von Angehörigen anderer Konfessionen bzw. des Islam verwendet worden. An anderer Stelle (S. 35) problematisiert er das Fehlen des in Antike und Frühneuzeit nachweisbaren Wortes atheus im Mittelalter. Hingegen unterlässt Dinzelbacher eine sorgfältige Abgrenzung der mittelalterlichen Terminologie ebenso wie eine durchgehaltene Definition von Atheismus und Unglauben. Letzteren gelegentlich nicht nur als negatio existentiae Dei aufzufassen, sondern jenem auch die „Leugnung eines Weiterlebens der Seele nach dem Tode“ oder die „Leugnung der Gottesnatur Jesu“ (weil „gewichtig für das christliche Alteuropa“, S. 8) hinzuzugesellen, ist nicht unüblich, aber höchst problematisch – man denke nur an die Sadduzäer. Dass Dinzelbacher das Problem des praktischen Atheismus als nichtreflektierte, aber tatsächliche Gottesverdrängung nicht thematisiert, rächt sich immer dann in seinem Buch, wenn er (bloße) fehlende Frömmigkeit einmal als Unglauben definiert und ein andermal nicht.

Im zweiten Kapitel über das „vorchristliche Mittelalter“ findet sich auf den knappen zweieinhalb Seiten außer ein paar Sagenzitaten von Kelten, Slawen und Germanen leider nichts zu Celsus und Kritias, zu Priesterbetrug und antikem Epikuräertum.

Das Großkapitel über den Unglauben der Intellektuellen wird mit Anselm von Canterbury und den philosophischen Spekulationen über Gottesexistenz und -beweise eingeleitet, ohne dass jedoch Gaunilo und Rodulfus Monachus auch nur genannt würden. Der entscheidenden Frage, ob es sich hier nur um Gedankenexperimente handelte oder „tatsächliche“ Ungläubige im Blick standen, weicht Dinzelbacher letztlich aus.

Von den „direkten Zeugnissen über ungläubige Intellektuelle“ (S. 22) muss Dinzelbacher umgehend zugeben, dass es sich „oft“ nicht um Selbstaussagen, sondern um Zuschreibungen seitens des politischen Gegners handele. Statt eine Typologie der Vorwürfe vorzunehmen – zum Beispiel anhand von Kurt Flaschs Unterscheidung von Attributions- und Konfessionsatheismus –, lässt Dinzelbacher etwa bei Bonifaz VIII. die Frage nach der Faktizität im Raum stehen oder konstatiert schlicht Übertreibungen.

Besonders bedauerlich ist Dinzelbachers Verzicht auf die Auseinandersetzung mit aktueller Forschungsliteratur zu so wichtigen Themenkreisen wie Amalrich von Bena, David von Dinant, den Verurteilungen von 1277, Siger von Brabant und den „lateinischen Averroisten“. Dass das Kapitel über Astrologie so kurz ist, kann man bedauern. Dass Biagio Pelacani, der doctor diabolicus, im ganzen Buch fehlt, ist ein wirkliches Manko.

Dinzelbacher betont zu Recht, dass gerade um 1200 ein Schub in den Klagen über Unglauben zu verzeichnen sei. Und er verweist korrekterweise in den Abschnitten über Glaubenszweifel, etwa bei Otloh von St. Emmeram, auf wichtige Dimensionen der Wahrnehmung und der teils milden Behandlung des Unglaubens seitens der Autoritäten.

Seine Darstellung der zeitgenössischen Behandlung Guido Cavalcantis im Kapitel über Skeptizismus und Antikenrezeption in der Renaissance leidet dann jedoch unter einer allzu unkritischen Lesart des Decamerone. Die Ausführungen zu Kaiser Friedrich II. im Kapitel über den Unglauben der Laien sind verschwindend kurz. Dies gilt noch mehr für das Diktum von den drei Betrügern (Moses, Jesus und Muhammad), das Dinzelbacher völlig unterschätzt.

Sehr zu Recht geht Dinzelbacher dagegen auf Kaiser Sigismunds Frau Barbara von Cilli ein sowie auf den Unglauben der Mediziner. Gegen diese, die neben den Kaufleuten bevorzugte Zielgruppe von Unglaubens- und Materialismusvorwürfen waren, richtete sich auch das Sprichwort ubi tres medici, ibi duo athei. Leider kann auch Dinzelbacher die Frage nicht beantworten, ob es, wie immer wieder in der Literatur behauptet, aus dem Mittelalter stammt.

Im ausführlichen Kapitel über den Unglauben der Künstler beschäftigt sich Dinzelbacher mit Beispielen von Verbitterung und Protest gegenüber Gott, etwa zur Zeit der Troubadoure. Allerdings wird ihm der Gotteslästerer etwas zu schnell zum Gottesleugner, obwohl sich oft gerade für das Gegenteil gute Gründe finden ließen.

Den Unglauben des Volkes grenzt Dinzelbacher zu Recht von Aberglauben und Paganismus ab. Dagegen marginalisiert er das mittelalterliche Epikuräertum, das nicht nur Dantes wegen als Kernthema gelten dürfte und zu dem Alexander Murray wesentliche Vorarbeiten geleistet hat, auf zweieinhalb Seiten.

Das Buch schließt mit Kleinkapiteln über religiös Indifferente und aufgrund der Theodizee-Problematik Demotivierte, über Jenseitsvisionen als Quellen für Unglauben, über die Ikonographie der infidelitas (in Dinzelbachers Beispielen leider allzu oft Heidentum, nicht Unglauben darstellend!) sowie über Zweifel an Transsubstantiation und Wundern.

Dinzelbachers betonte Objektivität (S. 152) gerät doch sehr ins Wanken, wenn sich der Leser mit Rundumschlägen (S. 29 und 116) und politisierenden Bezügen zu Kreuzen in den Klassenzimmern und Gottesbezug in der EU-Verfassung konfrontiert sieht. Was Dinzelbacher an anderen kritisiert, muss er gegen sich selbst geltend machen lassen: zu viele „nur irgendwie heterodox wirkende Äußerungen bekannter Denker oft geradezu gewaltsam […] als Zeichen von Materialismus und Atheismus oder wenigstens Skeptizismus zu interpretieren (zu) versuchen“ (S. 19).

Andererseits gibt es von Dinzelbacher keinerlei systematisch-argumentative Aussage zur Genese des Atheismus: Ist er zu jeder Zeit anzutreffen oder modernes Phänomen?

Mit seiner sehr punktuellen Zitierweise (kaum ein Standardwerk zu Friedrich II., dafür eine Wiener Diplomarbeit und eine kunsthistorische Studie von 1934) schadet Dinzelbacher zudem manchmal seiner eigenen Argumentation. In Montaillou etwa lassen sich noch mehr und wesentlich „atheistischere“ Passagen finden, als die von ihm zitierte. Und über den Weg dieses Klassikers würde vielleicht gerade für manchen Atheismus-Skeptiker ein Einstieg in die Plausibilität des Themas möglich.

Gerade hier hätte Dinzelbacher von seinen Verdiensten profitieren können: ein Manifest verfasst zu haben, das sich einem vernachlässigten Thema zuwendet und das aufgrund der sprachlichen Gewandtheit, disziplinären Aufgeschlossenheit und Vielseitigkeit seines Autors auch exotischere und doch lohnende Pfade weist. Am Ende des Buches kommt Dinzelbacher zu einem ausgewogenen Urteil: Am Bild vom „Zeitalter des Glaubens“ werde sich nichts fundamental ändern. Dass man zukünftig jedoch in Darstellungen des Mittelalters auch der „Gegen- und Nebenströmung“ mehr Raum geben möge (S. 147) und Dinzelbachers Aufruf zu einer intensiveren Diskussion Anlass geben kann, das wäre dem Buch zu wünschen.

Anmerkung:
1 Aaron Gurjewitsch, Himmlisches und irdisches Leben. Bildwelten des schriftlosen Menschen im 13. Jahrhundert, Dresden 1997, S. 470, 472.